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Wie die Tösstalbahn die Region prägte

Vor 150 Jahren fuhr erstmals ein Zug durchs Tösstal – ein Meilenstein mit Feststimmung, viel Pioniergeist und einer Bahn, die bis heute bewegt.

Gestern Dampflok, heute Thurbo: Die Strecke zwischen Winterthur und Wald wurde erst 1951 elektrifiziert.

Fotos: Chronikarchiv Bauma/Rolf Hug

Wie die Tösstalbahn die Region prägte

Seit 150 Jahren

Am 4. Mai vor 150 Jahren fuhr erstmals ein Zug durchs Tösstal – ein Meilenstein mit Feststimmung, viel Pioniergeist und einer Eisenbahn, die bis heute bewegt.

Der 4. Mai 1875 war ein wichtiger Tag fürs Tösstal: An besagtem Dienstag fuhr zum ersten Mal ein Dampfzug auf der Strecke zwischen Winterthur-Grüze und Bauma. Es war die Geburtsstunde der Tösstalbahn.

In der Turbenthaler Chronik von 1975 beschreibt Lokalhistoriker Hans Kläui den ersten Fahrtag. Morgens um 8.45 Uhr fuhr ein erster blumengeschmückter Zug aus der Eulachstadt ins Tösstal hinauf. «Triumphal wurde er an jeder Station in Empfang genommen.» Über 600 geladene Gäste gehörten dem Konvoi an.

Aufnahmen aus der damaligen Zeit sind rar. Ein Bild aus dem Chronikarchiv Bauma lässt vermuten, dass die Freude der Bevölkerung gross war – sie feierte ein richtiges Fest. Das Archiv geht davon aus, dass es die Feierlichkeiten für die Einweihung der Tösstalbahn zeigt – abschliessend lässt sich das aber nicht mehr klären.

Man sieht Leute an einem Fest.
Die Baumer sind in Festlaune. Dieses Foto stammt vermutlich von der Einweihung der Tösstalbahn.

Doch wie kam es überhaupt dazu, dass eine Randregion wie das Tösstal eine eigene Bahnlinie erhielt, die in ihren Anfangszeiten dreimal täglich talaufwärts und talabwärts befahren wurde?

Bis in die 1840er Jahre führte nicht einmal eine durchgehende Strasse durchs Tösstal. Kaum war die Strasse gebaut, nahm die Bahnfaszination auch die Region in ihren Bann.

Ein spendabler Geldgeber aus Mailand

Federführend für den Bau der Eisenbahn waren nicht etwa nur die Tösstaler – sondern auch die Winterthurer. «Die Stadt und ihre Industriellen hatten grosses Interesse daran, Arbeiter aus dem Tösstal mit der Eisenbahn nach Winterthur zu bringen», erklärt der Wilemer Historiker Wolfgang Wahl.

Und so ist es auch keine Überraschung, dass der Winterthurer Stadtpräsident Johann Jakob Sulzer Präsident des Gründungskomitees der Tösstalbahn wurde. Das war 1870. Winterthur hatte für deren Bau bereits 300’000 Franken gesprochen – und forderte die Tösstaler Gemeinden auf, sich ebenfalls am Aktienkapital zu beteiligen.

Man sieht eine Aktie der Tösstalbahn von 1875.
Eine Aktie der Tösstalbahn. Wie auf dem Stempel ersichtlich ist, wurde der Nominalwert nach finanziellen Problemen der Gesellschaft auf 400 Franken reduziert.

Das taten sie – stellten jedoch ihre Bedingungen. So wollte die Gemeinde Zell drei Haltestellen auf ihrem Gemeindegebiet. Genügend Kapital war Ende 1871 beisammen – etwa eine Million Franken.

Ein wichtiger Geldgeber war der Fischenthaler Johannes Schoch, der in Mailand mit dem Betrieb von Textilfabriken ein namhaftes Vermögen gemacht hatte. Er steuerte rund 600’000 Franken für den Bau bei – ebenfalls mit Bedingungen. So sollte die Bahnlinie schnellstmöglich in Richtung Wald verlängert werden.

Finanzielle Misere

Doch vor Schochs Ausbauplänen musste überhaupt erst die Linie von Bauma bis Winterthur-Grüze gebaut werden. Die Arbeiten starteten im Sommer 1873.

Damit der Zug nicht nur bis Grüze, sondern zum Bahnhof Winterthur fahren konnte, waren zusätzliche Verhandlungen nötig. Denn die Gleise nach Winterthur gehörten den Vereinigten Schweizerbahnen, der Bahnhof der Nordostbahn. Für die Abkommen musste die Tösstalbahn jährlich 50'000 Franken berappen.

Nach etwas weniger als zwei Jahren waren die Bauarbeiten abgeschlossen. Die Freude des grossen Eröffnungsfests verflog aber schnell – vor allem bei den Tösstaler Gemeinden.

«Der Bau der Bahn überstieg eigentlich ihre finanziellen Möglichkeiten», betont Wolfgang Wahl. «Sie mussten sich verschulden.» 1876 führten sintflutartige Regenfälle zu grossen Schäden an der Bahnstrecke, ein Jahr später ereignete sich ein zweites Hochwasser.

Da bereits der Bau der Linie teurer war als angenommen, brachte das die noch junge Bahngesellschaft in finanzielle Schieflage – und sorgte für Misstöne in den Gemeinden. Immer wieder mussten sie in den folgenden Jahren Gelder aufbringen und kamen dadurch selber in die Bredouille.

Das Damoklesschwert einer Liquidation schwebte jahrelang über der Tösstalbahn. Die Gesellschaft musste sich finanziell neu aufstellen – ein Prozess, bei dem Mäzen Johannes Schoch nochmals Geld beisteuerte. Nur mit scharfen Sparmassnahmen konnte die Gesellschaft gerettet werden und ihren Betrieb fortsetzen.

Zunächst als eigenständige Bahngesellschaft, bis sie rückwirkend auf den 1. Januar 1918 von den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) übernommen wurde. Ein nächster wichtiger Schritt kam 1944 mit der Elektrifizierung der Strecke zwischen Rüti und Wald. Von Winterthur bis Wald waren jedoch noch bis 1951 Dampfzüge unterwegs.

Man sieht einen Dampfzug.
Die Tösstalbahn wurde erst 1951 elektrifiziert.

Wie wichtig die Eisenbahn für die Region geworden war, zeigte sich 1975 am 100-Jahr-Jubiläum. Für viele war es ein Grund zum Feiern. «Überall waren die Bahnhöfe festlich geschmückt, und es verkehrte ein Dampfzug des DVZO auf der Strecke», erinnert sich Stefan Bender. Für den damals neunjährigen Turbenthaler war das Jubiläumsfest ein prägendes Erlebnis. Das Eisenbahnfieber liess ihn von da an nicht mehr los.

Man sieht einen älteren Herrn am Bahnhof Wila.
Stefan Bender ist von der Eisenbahn begeistert und weiss einiges über die Tösstalbahn.

Bereits als Junge half er dem Bahnhofvorstand beim Billettverkauf aus. Auch wenn ihm aus gesundheitlichen Gründen ein Berufsweg als «Bähnler» verwehrt blieb, ist die Eisenbahn bis heute seine grosse Leidenschaft.

Dass es heuer am 4. Mai keine Feierlichkeiten gibt, findet er schade. «Es ist wichtig, dass wir die Geschichte der Eisenbahn erhalten», betont er. «Die Bahn hat das Tösstal damals grundlegend verändert.»

Dem stimmt auch Historiker Wolfgang Wahl zu: «Die Leute sind durch die Eisenbahn viel mobiler geworden.» Obwohl die Bahn vor allem für den Transport von Arbeiterinnen und Arbeitern gebaut wurde, hatte sie auch einen Einfluss auf das Freizeitverhalten.

«Das sehen wir beispielsweise bei den Vereinsreisen in der Anfangszeit der Tösstalbahn», erklärt Wahl weiter. «Mit einem Billett ist man weit gekommen – schon fast bis an den Zürichsee.» Dank der Wald-Rüti-Bahn sei auch das Tor zur Innerschweiz offen gestanden.

Immer wieder in Bedrängnis

Dieses Tor existiert noch heute – zusammen mit vielen anderen Verbindungen. Mit dem Fahrplanwechsel 2018 wurde der langersehnte Halbstundentakt zwischen Winterthur und Bauma eingeführt – vorher war die Bahn im Hinketakt unterwegs mit variierenden Abfahrtszeiten.

Seither verkehrt in den Stosszeiten auch die S11 auf der Teilstrecke bis Wila. 2019 wurde der Halbstundentakt auch auf dem Abschnitt von Bauma bis Rüti eingeführt.

Der ausgebaute Takt und das grössere Angebot sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Bahnbetrieb im Tösstal immer wieder unter Beschuss stand. 1994 hatten die Verkehrsgruppe Wila und SP-Sektionen sowie besorgte Tösstalerinnen und Tösstaler die Interessengemeinschaft (IG) Tösstallinie zur Förderung des öffentlichen Verkehrs gegründet. Grund waren damalige Absichten, den Zug allenfalls durch einen Bus zu ersetzen.

Das ist nicht geschehen – der Verein besteht bis heute, sein Präsident ist seit 2020 der Ustermer BPU-Gemeinderat Paul Stopper. Als die IG kurz vor der Auflösung stand, stellte er sich spontan als Präsident zur Verfügung.

Paul Stopper porträtiert beim Känzeli, nahe seinem Wohnort
Paul Stopper ist überzeugt, dass es den Einsatz der IG Tösstallinie weiterhin braucht.

Für den pensionierten Verkehrsplaner braucht es sie aber weiterhin. Die Tösstallinie liegt ihm besonders am Herzen. «Auch wenn mir natürlich alle Bahnlinien wichtig sind», betont er.

Präsident sieht Entwicklungspotenzial

Stopper, der zahlreiche Bahnprojekte angestossen oder an diesen mitgearbeitet hat, hat auch für die Tösstallinie eine Vision. Und dies schon seit Langem.

Anfang der 1970er Jahre sei er an einem Militärkurs im Schulhaus Schmittenbach in Fischenthal gewesen, erinnert er sich. Da dieses aber nicht in Bahnhofnähe liegt, mussten die Teilnehmer in Steg oder Fischenthal mit den Militärlastwagen abgeholt werden.

«Viele Haltestellen entlang der Linie liegen einfach nicht dort, wo die Leute wohnen», moniert er. Das zeige sich vor allem auf dem Abschnitt zwischen Bauma und Rüti, der nicht immer gut ausgelastet sei.

Das will er zusammen mit der IG Tösstallinie ändern, und zwar mit zusätzlichen Haltestellen. Bereits in seiner Zeit als Kantonsrat von 1979 bis 1991 für den Landesring der Unabhängigen brachte er zahlreiche Vorstösse dazu ein – ohne Ergebnis.

Für ihn kein Grund, aufzugeben. Er ist überzeugt, dass weitere Haltestellen nötig sind, so etwa in Lipperschwendi, wo das Alters- und Pflegeheim Blumenau liegt, oder in der Juckeren, wo gegenwärtig eine Umnutzung der alten Spinnereien zu Wohnungen vorgesehen ist.

Man sieht einen Plan einer Bahnlinie.
Die IG Tösstallinie sieht grosses Entwicklungspotenzial für die Tösstalbahn – mit zusätzlichen Haltestellen.

Der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) hatte bisher kein Gehör. Trotzdem will Stopper im Sommer mit den Gemeinden ein neues Projekt besprechen. Den «Tösstal-Shuttle», einen Zug von Wila bis Rüti, der zusätzliche kleinere Haltestellen entlang der Linie bedient. Getreu seinem Credo: «Man muss die Bahn zu den Leuten bringen.»

Das Jubiläum der Tösstalbahn wird in diesem Jahr nicht im Mai, sondern im September gefeiert – und zwar am Dorffäscht in Bauma vom 5. bis 7. September.

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