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Gesellschaft

Ein Holocaust-Zeitzeuge erzählt in Uster seine Lebensgeschichte

Joop Caneel wuchs in der Niederlande während dem Zweiten Weltkrieg auf. Heute erzählt er an Schulen seine Geschichte.

Seit 2020 hält Joop Caneel Vorträge an Schulen und erzählt seine Geschichte.

Foto: Simon Grässle

Ein Holocaust-Zeitzeuge erzählt in Uster seine Lebensgeschichte

Geschichtsunterricht einmal anders

Der 85-jährige Joop Caneel erzählt den Schülerinnen und Schülern am Bildungszentrum Uster von seiner Kindheit während des Zweiten Weltkriegs.

Im Rahmen des Schweizer Lehrplans wird im Geschichtsunterricht der Zweite Weltkrieg durchgenommen. So auch am Bildungszentrum Uster. Hier sind Gymnasium, Berufsfachschule und eine Berufsmaturitätsschule untergebracht.  

Für diese Schulklassen organisierten die Geschichtslehrpersonen einen Vortrag mit einem Holocaust-Zeitzeugen. Joop Caneel ist zu Beginn des Kriegs in den Niederlanden auf die Welt gekommen. Er und seine Eltern wurden als jüdische Familie verfolgt.  

Heute besucht der 85-Jährige Schulklassen und erzählt von seiner Geschichte. So auch am Montagnachmittag in Uster.  

Holocaust-Zeitzeuge hält Vortrag im Bildungszentrum in Uster.
Vor gefüllten Sitzreihen erzählt der Holocaust-Überlebende seine Geschichte.

Die Aula ist voll, fast jeder Stuhl besetzt. Fünf Klassen der Berufsmaturitätsschule und zwei des Gymnasiums erwarten den Beginn des Vortrags.  

Die sieben Klassen, die in den Genuss des Vortrags kommen, schätzen diese Möglichkeit. «Ich finde es toll, dürfen wir an diesem Vortrag teilnehmen», meint Nadine, eine BMS-Schülerin. «Es fällt mir leichter, unsere Vergangenheit zu verstehen, wenn man sie mit einer persönlichen Begegnung verknüpfen kann.»  

Punkt 15.45 Uhr nimmt Joop Caneel vor dem Publikum Platz. Die vorgängige Unruhe im Saal verstummt. «Ich wurde 1939 in Amsterdam geboren», beginnt er. 

Dem Konzentrationslager knapp entkommen

1943 befanden sich die Niederlande bereits drei Jahre unter deutscher Besatzung. Joop Caneel war gerade mal vier Jahre alt, als eine Razzia in Amsterdam durchgeführt wurde. Tausende Juden wurden gewaltsam aus ihren Häusern geholt, verhaftet und in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.

Seine Eltern entschieden sich, ihn einer Untergrundorganisation zu übergeben. So erhofften sie sich, dass er in einer Pflegefamilie unterkommen und geschützt werden könnte.

Bevor der Junge zu seiner Pflegefamilie gelangt ist, entkamen seine Mutter und er dreimal einer Deportation. «Reine Glückssache war dies», sagt Caneel mit niederländischem Akzent.

Das dritte Mal entkamen sie der Deportation nur um ein Haar. «Meine Mutter tat so, als würde sie ohnmächtig werden.» Dies rettete den beiden das Leben. «Ansonsten wären wir mit dem Deportationszug nach Westerbork ins Durchgangslager und anschliessend ins Vernichtungslager verschleppt worden», erzählt der Holocaust-Überlebende. 

«Niemand durfte herausfinden, dass ich Jude bin»

Nach sechs Monaten, in welchen ihn die Untergrundorganisation bei mehreren Adressen versteckt hatte, kam er Ende 1943 in eine feste Pflegefamilie. Eine Bauernfamilie in einem kleinen Dorf namens Aalst im Süden der Niederlande.

«Um zu überleben, bekam ich den Decknamen Jopie Cornelissen.» Da er beschnitten ist, musste er zudem aufpassen, wenn er urinieren ging. Niemand sollte herausfinden, dass er Jude ist.

Bis Kriegsende konnte er bei dieser Familie bleiben. «Ich hatte wahnsinniges Glück», sagt Caneel, «vor allem, weil meine Pflegefamilie meine Identität für eine so lange Zeit verheimlichen musste.» Viele Momente von damals verankerten sich in seinem Gedächtnis. Sirenen, Bomben, die Tage, die er im Luftschutzbunker ausharren musste, und vieles mehr.

Erinnerungen, die ihn heute noch beschäftigen

Bis heute wird er an diese Zeit erinnert. «Als ich die Aufnahmen von den Sirenen in Kyiv gehört habe, merkte ich, dass ich noch nicht alles von früher verarbeiten konnte», erzählt Caneel.  

Heute beschäftigen ihn Themen wie der Israel-Palästina-Konflikt. Der 7. November 2023, als die Hamas Israel angriff, ist sehr prägend für Caneel. «Antisemitismus spielt auf der ganzen Welt immer noch eine grosse Rolle», betont der 85-Jährige.

«Meine Eltern erkannte ich nicht»

Am 3. September 1944 fuhr der letzte Deportationszug von Westerbork nach Auschwitz. 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden, 100’000 Menschen, kamen während des Zweiten Weltkriegs ums Leben.

Auch Joop Caneel hat viele seiner Familienmitglieder verloren. «Am Sabbat, dem wöchentlichen Ruhetag im Judentum, wurden zwei meiner Onkel von der SS verhaftet. Später wurden sie im KZ Mauthausen umgebracht», erzählt er.  

Seine Eltern überlebten jedoch. Per Zufall fanden diese heraus, dass auch ihr Sohn noch am Leben ist und wo er sich aufhält. Ende Mai 1945 fuhren sie mit dem Auto Richtung Aalst, wo sich Joop Caneel befand.  

«Das Auto, in dem meine Eltern ankamen, war beängstigend», erzählt er. «Ich habe sie gar nicht erkannt.» Seine Eltern wiederum freuten sich sehr. Zusammen mit ihnen hielt er die Beziehung zu seinen Pflegeeltern aufrecht. «Sie gehören zur Familie.»

Interessiertes Publikum

In den 1970er Jahren kam Joop Caneel dann in die Schweiz. Mittlerweile lebt er mit seiner Frau in Zürich. Seit fünf Jahren besucht er Schulklassen und erzählt seine Geschichte. «Es ist wichtig aufzuzeigen, dass so etwas Schreckliches geschehen ist und es jederzeit wieder passieren könnte», sagt Caneel.  

Während des ganzen Vortrags hören die Schülerinnen und Schüler Caneels Erzählungen gebannt zu. Erst als er seinen Vortrag beendet und sich für die Aufmerksamkeit bedankt, beginnt das Publikum zu applaudieren.  

Nach dem Vortrag ist die Fragerunde für die Schülerinnen und Schüler eröffnet. Diese sind sichtlich interessiert. «Haben Ihre Eltern und Sie diese Erlebnisse jemals verarbeitet?» – «Verspüren Sie Hass gegenüber Personen, die sich rassistisch und antisemitisch verhalten?» – «Wird in der Schweiz bezüglich der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs genug gemacht?»  

Holocaust-Zeitzeuge hält Vortrag im Bildungszentrum in Uster.
Die Schülerinnen und Schüler nutzen die Möglichkeit, ihre Fragen zu stellen.

Neben den Erzählungen aus seiner schwierigen Kindheit und den Antworten lernt man aber auch immer wieder seine offene und warmherzige Persönlichkeit kennen. Auf die Frage, wie er seine Ehefrau kennengelernt habe, erzählt er beispielsweise eine Anekdote, wie er sie an einem Studentenball in Basel getroffen und später geheiratet habe. 

Nach anderthalb Stunden kommt die Veranstaltung mit Vortrag und Fragerunde zu einem Ende. Joop Caneel ist sichtlich berührt vom Interesse der Jugendlichen.  

Schüler Elia wiederum ist von Caneels Offenheit beeindruckt. «Ich finde es eindrücklich, wie er von seiner Vergangenheit erzählen kann. Aber gerade solch ein Vortrag ist extrem wichtig, dass diese Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten.»

Mit Vorträgen den Zweiten Weltkrieg nicht vergessen lassen

Das Projekt «The Last Swiss Holocaust Survivors» organisiert Vorträge mit Holocaust-Überlebenden. Das Ziel ist es, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wachzuhalten und eine Auseinandersetzung mit dem Thema anzuregen.

Dabei besuchen verschiedene Holocaust-Überlebende Schulklassen im Raum Zürich. Ausserdem werden Wanderausstellungen angeboten, bei denen auf Plakaten die Geschichten von Zeitzeugen erzählt werden.

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