«Ich bin durch die Hölle gegangen, während meine Eltern ungestraft davongekommen sind»
Sektenaussteiger fordert Gerechtigkeit
Philip Seibel wurde als Kind in einer Sekte sexuell missbraucht und gezüchtigt. Die Straftaten sind verjährt, trotzdem kämpft er weiter für Gerechtigkeit.
Philip Seibel sitzt im Sitzungszimmer von Relinfo, der Evangelischen Informationsstelle für Kirchen, Sekten und Religionen, in Rüti im Kanton Zürich. Der 42-Jährige hat eine Videokamera aufgestellt. Er blickt hinein und sagt: «Ich will mich nicht mehr schämen für das, was mir angetan wurde – ich bin ein Sektenopfer, ein Missbrauchsopfer.»
Philip wurde in den Niederlanden als sogenanntes «Jesus Baby» in die Children of God (zu Deutsch Kinder Gottes) hineingeboren. Die Sekte, die sich später The Family International oder einfach The Family nannte, wurde 1968 von David Berg in Kalifornien gegründet. Die meisten Mitglieder waren Jugendliche aus der Hippieszene. 2010 wurden die Wohngemeinschaften der Familie offiziell aufgelöst, bestehen aber mancherorts noch fort.
Die Kinder Gottes waren eine Sex-Sekte, bei der Kinder von ihren eigenen Eltern und anderen Erwachsenen sexuell missbraucht wurden. Berg verstand die sexuellen Aktivitäten als Form der Nächstenliebe, die auch die göttliche Liebe zum Menschen widerspiegelten. Kinder wurden zudem psychisch und physisch gezüchtigt und durften nicht zur Schule gehen.
Die Kinder Gottes waren auch in der Schweiz aktiv
Die Gruppe wuchs schnell und breitete sich in anderen Ländern aus, wo Kolonien gegründet wurden. In den 70er- bis 90er-Jahren war die Sekte auch in der Schweiz sehr aktiv. Philip kam als Siebenjähriger mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und seinen Geschwistern nach Zürich, nachdem die Familie zuvor mehrere Jahre in Indien und kurze Zeit in Deutschland verbracht hatte. Er sprach nur Englisch, das war in der Sekte so üblich.
In Zürich hätten sie mit mehreren Leuten in einer Dreizimmerwohnung gelebt, sagt Philip. Als Nachbarn darauf aufmerksam geworden seien, dass sich Kinder in der Wohnung befanden, die nicht zur Schule gingen, seien sie nach Wetzikon geflohen.
Ich wollte, dass meine Eltern dafür bestraft werden, dass sie mich versklavt und der Freiheit beraubt haben.
Philip Seibel
Weitere Stationen waren Elgg ZH, Les Genevez JU, Les Bayards NE, Martigny VS und schliesslich Le Giettes VS. Von da aus floh Philip mit 14 Jahren aus der Sekte und verdiente sich sein Geld als selbstständiger Strassenmusiker.
Philip lebte gut von seinen Auftritten und war in ganz Europa unterwegs. Als er mit 24 Jahren Vater wurde, realisierte er, dass sich das Leben als Künstler und Vater nur schwer vereinbaren liess. Er arbeitete danach in verschiedenen Branchen und gründete 2018 einen Umzugsbetrieb.
Heute wohnt Philip mit seiner Frau und ihren drei Kindern im Raum Bern. Er geht wieder seiner Leidenschaft nach, arbeitet als Tontechniker, Eventmanager und produziert seine eigene Musik. Noch immer plagen ihn aber die Erinnerungen an seine Kindheit. «Ich bin durch die Hölle gegangen, während meine Eltern ungestraft in Deutschland leben», sagt Philip.
Er hatte immer das Gefühl, seine Geschichte leugnen zu müssen. Auf Fragen, wieso er Englisch spreche, obwohl er Deutscher sei, erfand er Ausreden und erzählte, seine Eltern seien Missionare oder Diplomaten. Irgendwann hatte er aber keine Lust mehr, zu lügen und seinen Lebenslauf zu fälschen. «Ich wollte, dass meine Eltern dafür bestraft werden, dass sie mich versklavt und der Freiheit beraubt haben», sagt Philip. Diese leben seit 2014 in Deutschland. Vorher waren sie auf der ganzen Welt unterwegs gewesen. Sie zu finden, sei kaum möglich gewesen.
Ausweglose rechtliche Situation
2015 reichte Philip Strafanzeige gegen seine Eltern ein. Die Staatsanwaltschaft nahm die Strafuntersuchung aber nicht anhand, weil die in der Schweiz gegenüber ihm begangenen strafbaren Handlungen verjährt seien. Im vergangenen Jahr wies ihm die Opferhilfe Bern ein Anwaltsbüro zu, das zum selben Schluss kam: «Einer allfälligen Strafanzeige würde nach unserer Einschätzung keine Folge gegeben», heisst es in der Mail des Anwaltsbüros, das dieser Zeitung vorliegt.
Weil die rechtliche Situation ausweglos ist, geht Philip mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit. In selbst aufgenommenen Videos, die auf seiner Website zu finden sind, schildert er detailliert seine Erlebnisse: Wie er als Sechsjähriger in Indien mit heruntergelassenen Hosen an eine Säule gefesselt und vor der frühstückenden Gemeinschaft ausgepeitscht worden sei, weil er in einem Wutanfall Gott und das Sektenoberhaupt beleidigt habe. Oder wie sein Stiefvater Stefan sich beim gemeinsamen Beten im Bett regelmässig an ihm vergangen habe.
Sekte wirbt im Internet
Shincheonji («Neuer Himmel, neue Erde») ist die zurzeit am stärksten werbende Sekte in der Schweiz. Es handelt sich dabei um eine Neuoffenbarungsreligion aus Südkorea. Shincheonji oder «New Heaven, New Earth», wie sich die Gemeinschaft auch nennt, ist laut Sektenexperte Georg Schmid seit ungefähr 2016 in der Schweiz tätig und versucht, insbesondere christlich geprägte junge Menschen zu gewinnen. Sie missioniert über Freundschafts-Plattformen im Internet und durch Ansprechen auf der Strasse. Dabei gehe Shincheonji in kritischer Sicht manipulativ vor, indem Zuneigung vorgetäuscht («Love Bombing») und der Hintergrund der Gemeinschaft verschleiert werde, sagt Schmid. (red)
Was Philip erlebt hat, ist derart krass, dass es schwerfällt, es zu glauben. Georg Schmid ist Religions- und Sektenexperte und leitet die Informationsstelle Relinfo. Er und seine Stellvertreterin Julia Sulzmann haben sich intensiv mit Seibels Geschichte auseinandergesetzt, ihn mehrfach getroffen und den Kontakt zum «Tages-Anzeiger» hergestellt. «Philips Berichte decken sich mit den Angaben, die uns von anderer Seite vorliegen», sagt Schmid. Seine Geschichte sei plausibel und überdies in sich schlüssig.
Tatsächlich findet sich zum Beispiel im «The Guardian» ein Artikel aus dem Jahr 2016 über eine Sektenaussteigerin namens Lauren Hough. Sie berichtet unter anderem über ihren Aufenthalt in Elgg und erwähnt dabei das Chalet und auch Philips Stiefvater Stefan Seibel. Sie schildert eine Episode, in der Stefan Seibel den Arm um sie gelegt und gesagt habe: «Nimm Platz, Süsse.» Hough schreibt: «Wenn Wörter wie Süsse, so unschuldig und zuckersüss, aus dem falschen Mund kommen, wünschst du dir, dass du Hosen trägst.»
Ein Fonds für Sektenopfer
Georg Schmid begann seine Tätigkeit bei Relinfo im Jahr 1993. Damals sei die Sekte Children of God oder The Family International ein grosses Thema gewesen, sagt der Sektenexperte. Im Laufe der Jahre hätten sich mehrere Dutzend betroffene Menschen gemeldet. Eine Zeit lang arbeitete ein ehemaliges Mitglied auch bei Relinfo. Keine in der Schweiz aktive Gemeinschaft sei mit ihren Mitgliedern, insbesondere mit ihren Kindern, so missbräuchlich umgegangen wie Children of God, sagt Schmid.
Im Ausland kam es während dieser Zeit zu verschiedenen Grossrazzien, 1989 in Argentinien oder 1993 in Australien, und zu juristischen Verfahren, etwa in Spanien und Frankreich. In Schottland wurde ein Sektenmitglied gar verurteilt. In der Schweiz gibt es hingegen kaum Belege für behördliche Eingriffe. Die Staatsanwaltschaft könne so weit zurückliegende Fälle nicht rekonstruieren, da sie noch nicht digital erfasst seien, schreibt die Justizdirektion des Kantons Zürich auf Anfrage. Eine ähnliche Antwort liefert auch die Stadt Zürich: Die Stadtpolizei verfüge nur noch über Daten, die nicht mehr als 30 Jahre zurückliegen.
Dass die Kinder Gottes in der Schweiz vergleichsweise glimpflich davonkamen, führt Sektenspezialist Schmid unter anderem auf «eine falsche Liberalität gegenüber alternativen Gruppen» zurück, die es in der Schweiz gegeben habe. «Zwar ist es richtig, dass solche ihren Platz haben sollen, wichtig ist dabei aber auch, dass die Rechte und Unversehrtheit derjenigen, die sich nicht freiwillig für das Leben in der Kommune entschieden haben, nämlich der Kinder, durch staatliche Stellen gesichert werden», sagt Schmid.
Nachbarn vertrieben Sekte mit Molotowcocktails
Vollkommen unbeachtet blieb die Sekte aber auch in der Schweiz nicht. In Elgg sei das Chalet, in dem die Gemeinschaft gewohnt habe, von Nachbarn mit Molotowcocktails beworfen worden, sagt Philip. «Wir mussten das Haus fluchtartig verlassen.» Die Sekte wehrte sich daraufhin mit einem offenen Brief an die Nachbarn gegen die Anfeindungen.
Dieses Schreiben aus Elgg und weiteres Quellenmaterial wie Zeitungsberichte, in denen die Wohnsitze der Children of God erwähnt sind, Werbeflyer der Sekte mit Absender Bahnhofstrasse oder Usteristrasse Zürich und weitere Schreiben aus Basel, Bern oder Genf sind bei Infosekta, der Fachstelle für Sektenfragen, abgelegt. Die Kinder Gottes seien bekannt dafür gewesen, den Wohnort zu wechseln, wenn sie in Bedrängnis kamen, sagt die Geschäftsführerin von Infosekta, Susanne Schaaf.
Die wenigsten Sektenopfer sprechen öffentlich über ihre Erfahrungen – zu gross ist ihre Scham, zu gering sind die Chancen für eine erfolgreiche Strafverfolgung. Doch wie kann ihnen geholfen werden? Nicht jedes Mitglied brauche dieselbe Hilfe, sagt Sektenexperte Schmid. Wer in einer missbrauchenden Gemeinschaft wie Children of God gewesen sei, benötige nach dem Ausstieg vielseitige Unterstützung. Eine Psychotherapie sei meist sinnvoll. Eine Möglichkeit wäre für Schmid auch, beim Bund ähnlich wie für die Verdingkinder einen Entschädigungsfonds zu beantragen. «Die Initiative müsste aber von den Opfern ausgehen. Relinfo würde sie dabei tatkräftig unterstützen.»
Philip befürchtet, dass eine finanzielle Entschädigung missverstanden würde. «So glauben die Leute, dass wir nur auf Geld aus sind», sagt er. Ihm gehe es aber um Gerechtigkeit – für ihn und für alle Opfer. Darum, dass Menschen wie seine Eltern bestraft werden.