Sie erklärt, warum Sex auch im höheren Alter ein «Muss» ist
Noch immer ein Tabuthema
In Uster führt Esther Elisabeth Schütz eine Gemeinschaftspraxis für Sexologie und Sexualtherapie. Sie erklärt im Interview, was es mit der Liebe und dem Sex im Alter auf sich hat.
Frau Schütz, kümmern Sie sich als Sexologin und Sexualtherapeutin um das «wie» oder um das «ob überhaupt»?
Esther Elisabeth Schütz: Beides. Es kann zum Beispiel um die Selbstbefriedigung gehen. Viele Frauen und Männer haben eigene Rituale installiert, die einzig der Entspannung dienen. Hier stellt sich die Frage, wie man den eigenen Zugang so gestalten kann, dass die sexuelle Erregung möglich und gesteigert wird. Manchmal geht es auch darum, die Lust überhaupt zu ermöglichen. Wenn beispielsweise die sexuellen Empfindungen der Klitoris zurückgegangen sind und die Lust auf die eigene Sexualität gänzlich ausbleibt, was auch sein darf. Wie bei vielem im Leben, das sich im Alter verändert, geht es darum, Neues zu entdecken. Unter anderem gehört auch die Wertschätzung des eigenen Körpers dazu.
Allgemein wird geglaubt, dass die sexuellen Triebe sowie das Bedürfnis nach körperlicher Nähe im Alter nachlassen. Ein Irrglaube – oder ist da was dran?
Das stimmt so nicht. Die Funktionalität ist sehr abhängig von dem, was Menschen gelernt haben. Es ist wie beim Gehen. Wenn eine Person nie ihre Muskelkraft trainiert, wird das Gehen im Alter eher etwas beschwerlich. Nach Prostataoperationen ist die Erhaltung der Erektion zum Beispiel eine Herausforderung. Es gibt andere Wege, als Mann das Gefühl der Potenz wiederherzustellen und dabei den sexuellen Austausch auf neue Art zu erleben. Das Verlangen nach körperlicher Nähe ist ein Grundbedürfnis. Von jemandem umarmt zu werden, stärkt das Gefühl des Aufgehobenseins.
Wenn Sie an Menschen in Pflegeheimen und deren etwaige Einsamkeit denken: Sind Berührungen wichtiger als der sexuelle Akt an sich?
Wenn heute vom sexuellen Akt geredet wird, ist häufig der Geschlechtsverkehr gemeint. Viele verbinden diesen nicht mit sinnlich-erotischen Körperberührungen. Dabei gehören diese dazu, weil sie dem Geschlechtsakt vorausgehen und ihn bereichern – das trifft auch bei einem «Quickie» zu. Insofern sind Berührungen Teil des sexuellen Verständnisses. Selbstverständlich können Berührungen auch an die Liebe gekoppelt sein, an einen zwischenmenschlichen Kontakt. Es ist schön, jemanden zu haben, der sich Zeit nimmt, einem länger in die Augen schaut, die Hand hält oder über das Gesicht streichelt. Durch diese Bindung entsteht das Gefühl, ein Mensch zu sein: Das ist Nahrung für die Seele – und die brauchen wir alle.
Spielt die Pornografie auch bei betagten Menschen eine Rolle? Laut Studien haben Jugendliche heutzutage teilweise kein Interesse mehr an «normalem Sex», da sie bereits im frühen Alter zu viele Pornos konsumiert haben.
Für Männer sind die visuellen Reize wichtiger als für Frauen, deshalb nutzen mehr Männer im Internet Darstellungen sexueller Szenen als Anregung. Die visuelle Inspiration von Männern lässt in der Regel auch im Alter nicht nach. Sei dies im Netz oder im Sommer, wenn mehr nackte Haut zu sehen ist. Viele Jugendliche wissen, dass sie neben dem Konsum von Pornografie auch ihre eigenen Phantasien beleben müssen, wenn sie später mit einer Partnerin oder einem Partner eine erfüllte Sexualität leben wollen. Wird zu viel Pornografie konsumiert, entsteht eine Konditionierung, welche die Neugier für den sexuellen Austausch eindämmen kann.
Auf Ihrer Website schreiben Sie: «Wenn der Traum von lustvoller Sexualität grösser ist als die Realität oder die Liebe allein nicht mehr reicht, müssen neue Lösungen gefunden werden.» Wie gehen Sie als Therapeutin dabei vor?
Jede Person bringt Fähigkeiten mit. Als Erstes geht es darum, diese wieder zu beleben und sie wertzuschätzen. Einem Wunsch entsprechend setze ich dann gezielt an diesem Punkt an. Das kann über das Gespräch, über Wissensvermittlung, Verhaltensveränderungen oder über Körperübungen passieren. Es ist wie bei vielem: Manchmal ist es herausfordernd, eine Blockade selbst zu lösen. Dann hilft der Aussenblick. Das kann in offenen Gesprächen im Freundeskreis oder in einer Beratung sein.
Je länger man sich gegenseitig kennt, desto langweiliger wird es. Zumindest ist dies ein weit verbreiteter Glaube. Ist das bei langjährigen Ehen oftmals ein Problem? Vertrautheit kann schliesslich auch dienlich sein.
Die Vertrautheit ist tatsächlich gewinnbringend. In der Sexualität kann sie Paare jedoch daran hindern, miteinander neue Wege zu gehen. Etwas zu verändern, braucht immer Mut. Es braucht immer einen, der beginnt – am besten bei sich selbst. Oft will die eine den anderen verändern, aber befürchtet, dass das Gegenüber nicht gewillt ist. Das ist der Anfang vom Ende. Langeweile ist der Gegenpart zur Neugierde. Zum Beispiel: Jemand von beiden ist zuständig für das nächste Sex-Dating, plant die Verführung sowie eine kleine Überraschung. Beim Gegenüber weckt dies die Neugier: Was hat sie oder er sich ausgedacht? Dies fördert die Spontanität. Erst diese ermöglicht in langfristigen Beziehungen, dass das Gefühl des sexuellen Begehrens belebt und erhalten wird.
Was können jüngere von älteren Menschen bezüglich des Erhalts der Sexualität lernen?
Im Bereich der Sexualität wollen junge Menschen ihren eigenen Weg gehen. Eltern sind keine guten Ansprechpersonen, denn die Sexualität führt ja zum Glück vom Elternhaus weg. Wertvoll wäre, von älteren Menschen etwa zu erfahren, wie sie sexuelle Hürden überwinden konnten. Vielleicht könnte die Frage «Was wünschen Sie mir im Leben bezüglich Sexualität und Liebe?» schon ein gutes Gespräch eröffnen. Als 73-jährige Sexologin und Sexualtherapeutin würde ich sagen: Eine Paarbeziehung besteht aus zwei wichtigen Säulen, der Liebe und der Sexualität. Wenn eine Liebesbeziehung gelingen will, müssen beide Säulen belebt und kreativ gelebt werden.
Bei welchem Geschlecht ist das Bedürfnis nach Sexualität im Alter höher – gibt es Unterschiede?
Ja, doch diese Unterschiede zeigen sich in der Regel nicht erst im Alter. Männer haben im Durchschnitt mehr Lust auf Sex als Frauen, selbstverständlich gibt es hier wie bei allem auch Ausnahmen. Frauen wollen sich sexuell begehrt fühlen, Komplimente erhalten, die körperliche erotische Sinnlichkeit austauschen. Studien belegen, dass die Lustlosigkeit bei Frauen eines der grössten Probleme ist, bei Männern sind es Erektionsprobleme. Der Mann identifiziert sich mit seiner Potenz als Mann, bei der Frau ist es die Gebärfähigkeit, obwohl beides in dieser Art nicht unbedingt gelebt werden muss.
Als Abschluss: Wie kamen Sie eigentlich zu diesem Beruf?
Ich arbeitete als Oberstufenlehrerin. Im Unterricht ist mir ein Mädchen aufgefallen, von dem ich annahm, dass es bereits Geschlechtsverkehr hat und möglicherweise nicht verhütet. Es brauchte 1976 viel Mut, ein offenes Gespräch mit dem Mädchen zu suchen. Meine Ahnung hatte sich bestätigt, was dazu führte, dass ich den geplanten sexualpädagogischen Unterricht aufgenommen habe. Später habe ich als Sexualpädagogin erlebt, wie junge Frauen und Männer auf der Suche sind, ihre Sexualität erfüllend zu erleben, und wie wenige Gestaltungsmöglichkeiten sie für sich selbst sehen. Die Dialoge zwischen den Geschlechtern waren oft schambehaftet.
Zur Person
Esther Elisabeth Schütz war einst Primarschullehrerin und unterrichtete bereits in den 1980er Jahren Sexualpädagogik. Im Jahr 1995 machte sie sich selbständig und gründete das Institut für Sexualpädagogik (ISP) in Uster, welches sie 22 Jahre lang leitete. Seit 2008 führt Esther Elisabeth Schütz die Praxis für Sexologie und Sexualtherapie in Uster. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher und Publikationen rund um das Thema Sexualität.
Vortrag «Sex im Alter»
Am Freitag, 31. März, findet im Breitenhofsaal in Rüti um 14 Uhr die Veranstaltung zum Thema «Sex im Alter» statt. Die Sexologin Ester Elisabeth Schütz wird ein Referat halten. Dabei begleitet sie der Pianist Angelo Signore. In der Pause sowie nach der Veranstaltung besteht bei einem Apéro die Möglichkeit zum Austausch. Der Anlass ist kostenlos und erfordert keine Anmeldung.