Gesundes Zuckerbrot – bizarr!
Wie sich im taufrischen Jahr wohl das Wirtschaftsleben entwickeln wird? Die Prognosen tönen ja – trotz Explosion der Omikron-Variante – erstaunlich positiv, was eine anhaltend tiefe Arbeitslosigkeit erhoffen lässt.
Die Konjunkturexperten senken deshalb die Langfristprognosen der Arbeitslosenquote von 2,7 auf 2,4 Prozent – aber da sich die Realität nicht immer an Voraussagen hält, widmet die Wissenschaft ihr Augenmerk zu Recht auch jenen, die unter Jobverlust leiden.
So zeigt eine Studie der englischen University of Stirling, dass sich die Psyche umso stärker verändert, je länger die Arbeitslosigkeit anhält. Nicht nur leide das persönliche Wohlbefinden, auch der Persönlichkeitskern werde negativ tangiert.
B ei Menschen, die vom Arbeitsprozess ausgeschlossen sind, würden denn auch das Pflichtbewusstsein, das Verständnis gegenüber Dritten sowie die Offenheit stark reduziert.
Doch wie gingen die Forscher vor? Die Teilnehmer der Studie mussten zwei Persönlichkeitstests ausführen, und zwar in einem zeitlichen Abstand von vier Jahren. Zum ersten Zeitpunkt waren alle beschäftigt. Beim zweiten standen die Probanden entweder unverändert im Lohn, waren stellenlos oder in der Vergangenheit temporär ohne Arbeit.
« Denn Arbeitslose werden ungerechtfertigterweise für unverschuldete Persönlichkeitsveränderungen stigmatisiert. »
Jene Gruppe, die am längsten unter Beschäftigungslosigkeit litt, war am stärksten von einer negativen Persönlichkeitsveränderung betroffen. Die Studienautoren ziehen daraus den naheliegenden Schluss, dass Arbeitslosigkeit nicht nur ökonomische Folgen zeitigt.
Denn Arbeitslose werden ungerechtfertigterweise für unverschuldete Persönlichkeitsveränderungen stigmatisiert. Und je länger ihre Erwerbslosigkeit dauert, desto stärker wird ihr Persönlichkeitskern beschädigt. Als Folge davon kommt es zur Abwärtsspirale am Arbeitsmarkt mit schwindenden Aussichten einer Wiedereingliederung.
Doch nach welchen Anreizsystemen funktionieren eigentlich die Angestellten? Auch dazu liegt eine neuere Studie vor. Wie die University of Pennsylvania herausgefunden haben will, wirkt die Peitsche effektiver als das Zuckerbrot .
Mit der Peitsche sind drohende finanzielle Verluste gemeint, mit dem Zuckerbrot die Aussicht auf Gewinn. So sollen in Aussicht gestellte Strafen eine grössere Wirkung entfalten als mögliche Belohnungen.
Dies jedenfalls ergab das Experiment mit 281 Angestellten der US-Hochschule. Während drei Monaten wurden sie aufgefordert, pro Tag mindestens 7000 Schritte zu machen. Um zur Zielerreichung zu animieren, setzten die Forscher verschiedene Anreize.
In der einen Gruppe erhielten die Teilnehmenden umgerechnet 1,50 Franken für jeden Tag, an dem sie die Vorgabe erfüllten. Eine andere Gruppe wiederum bekam monatlich automatisch 45 Franken abzüglich 1,50 Franken für jene Tage, an denen sie weniger absolvierte. Einer dritten Gruppe schliesslich winkten keinerlei finanzielle Zückerchen. Doch trotzdem machte jeder Dritte 7000 Schritte.
« Die Peitsche macht also wie erwähnt mehr Eindruck als das Zuckerbrot. »
Als bemerkenswert stuft das beauftragte Forscherteam den Umstand ein, dass dieser Wert beim Segment mit finanziellem « Appetizer » mit 35 Prozent nur minim höher war. Hingegen zeigten sich jene Angestellten besonders fleissig, die zwar nichts zu verlieren hatten, aber zumindest ihren Verlust minimieren konnten.
So erreichten 55 Prozent von ihnen das vorgegebene Ziel. « Wir wissen von unserer Forschungsarbeit, dass Menschen irrational handeln, doch sie sind vorhersehbar irrational. Sie tendieren dazu, von Verlusten mehr motiviert zu werden als von Gewinnen » , kommentiert Studienleiter Mitesh S. Patel. Die Peitsche macht also wie erwähnt mehr Eindruck als das Zuckerbrot.
Man mag zumindest die grenzüberschreitende Relevanz und Aussagekraft solcher Experimente anzweifeln. Doch in den USA mit ihren recht liberalen Arbeitsmarktgesetzen und ihrem weitgehend privatisierten Sozialversicherungssystem ergeben sie durchaus Sinn.
Denn nordamerikanische Arbeitnehmer werden immer öfter dazu ermuntert, sich zu bewegen und gesund zu leben – als Zuckerbrot winken dafür geringere Versicherungsprämien. Auch hierzulande wird vermehrt ans eigene Verantwortungsgefühl appelliert und die Krankenkassen « verführen » mit Goodies zu gesünderem Leben. Dass ausgerechnet ein Zuckerbrot die Gesundheit fördert, klingt allerdings bizarr.
(Werner Knecht)
Werner Knecht war langjähriger Chefredaktor der «Coopzeitung» und Hochschuldozent für Kommunikationswissenschaften. Er arbeitet als Buchautor, Ghostwriter und Journalist für mehrere grosse Medientitel und wohnt in Wetzikon.