Nach eigenem Massstab ist die Schweiz ein Risikoland
Seit die Schweiz aus dem Lockdown geholt wurde, steigt die Zahl der Neuinfektionen stetig an. Am Montag hat sie nun jene Grenze erreicht, nach der sie andere Länder und Regionen zum Risikogebiet erklärt: dann, wenn sich innert eines Zeitraumes von 14 Tagen 60 von 100’000 Personen neu mit Covid-19 angesteckt haben.
Manche Kantone haben diese Grenze bereits seit längerem überschritten, vor allem solche in der Romandie. Die Schweiz hat die Einschränkungen des Lockdown im Frühsommer rasch gelockert und gehörte in der Folge zu jenen europäischen Staaten mit den laxesten Bestimmungen.
Übernimmt der Bundesrat wieder die Führung?
Nein. Wie es beim Eidgenössischen Departement des Innern auf Anfrage heisst, ändern die erhöhten Zahlen nichts an den Zuständigkeiten von Bund und Kantonen. Es gilt weiterhin die sogenannte besondere Lage, bei der der Bund nur die grundlegenden Vorgaben festlegt, etwa die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr oder den Mindestabstand von 1,50 Metern. Alles andere liegt noch im Ermessen der Kantone.
Ab welchem Wert wird der Bundesrat wieder übernehmen?
Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass der Bund wieder einmal die Führung übernimmt. Er hat aber keinen entsprechenden Wert festgelegt, ab wann er dies allenfalls tun wird – er will situativ entscheiden. Da die Corona-Ausbrüche in der Regel lokal und nicht flächendeckend sind, verfolgen Bund und Kantone die Strategie, auch lokal Massnahmen zu ergreifen.
Wird die Schweiz nun zur Risikoinsel?
Die Schweiz erreicht im Vergleich mit den Nachbarländern keinen Spitzenwert bei den Neuinfektionen. Am Sonntag verzeichnete sie im Durchschnitt der letzten Woche einen Tageswert von 4,5 Neuansteckungen pro 100’000 Einwohner. In Frankreich waren es mit durchschnittlich 12,3 Neuinfektionen pro Tag fast dreimal so viele, und auch in Österreich waren es deutlich mehr (6,5). In Italien aber, wo die Zahl der Neuinfektionen im Frühling geradezu explodierte, liegt dieser Wert bei 2,4, in Deutschland gar nur bei 1,7.
Wie lange dürfen wir noch in unsere Nachbarländer reisen?
Von den Nachbarländern kennt einzig Deutschland eine fixe Grenze, ab der Personen aus dem Ausland nur unter gewissen Bedingungen einreisen dürfen: Sie liegt bei bei 50 Neuinfektionen pro 100’000 Einwohner. Dies bemisst sich allerdings innert sieben Tagen und nicht wie in der Schweiz innert 14 Tagen. Österreich, Frankreich und Italien kennen keinen solchen Grenzwert. Bei der österreichischen Botschaft in Bern etwa hiess es, man beobachte die Situation in anderen Ländern genau. Man wolle aber flexibel sein und keinen fixen Wert bestimmen, der ein Land auf die Liste der Risikoländer zwinge. Oft stiegen die Fallzahlen auch nicht im ganzen Land, sondern regional.
Welche Kantone riskieren, als Erste auf die Risikoliste anderer Staaten gesetzt zu werden?
Viele Länder sind dazu übergegangen, nicht ganze Länder, sondern lediglich Regionen auf die Liste der Risikogebiete zu setzen. Dies nicht nur, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen, sondern auch, weil die Unterschiede zwischen den Regionen tatsächlich sehr gross sein können. In der Schweiz ist die Zahl der Neuinfektionen in der Waadt mit Abstand am grössten: Sie verzeichnet 190 Neuinfektionen pro 100’000 Einwohner innert 14 Tagen. Danach folgen die Kantone Freiburg (133), Genf (116), Neuenburg (63) und Zürich (63). So hat Deutschland zum Beispiel die Waadt und Genf auf die Liste der Risikogebiete gesetzt. Einreisende aus diesen Kantonen müssen sich entweder in Quarantäne begeben oder mit einem Test nachweisen, dass sie Covid-negativ sind.
Wo steht die Schweiz bereits auf der Liste der Risikoländer?
Eine vollständige und aktualisierte Liste gibt es nicht, wie es beim Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auf Anfrage heisst. Weil sich die Situation täglich ändere und eine Einstufung zum Risikogebiet nicht nur die ganze Schweiz, sondern auch einzelne Kantone betreffen könne, werde keine solche Liste geführt. Das EDA empfiehlt Reisenden, sich selber beim jeweiligen Land zu informieren. Manche haben entsprechende Informationen auf der Internetseite ihrer Botschaft in der Schweiz aufgeschaltet. Grossbritannien oder Finnland, welche tiefe Grenzwerte kennen, haben die Schweiz schon auf die Liste der Risikoländer gesetzt.
Welche Rolle spielen wirtschaftliche Überlegungen?
Insbesondere Grenzregionen halten nicht an strikten Regel fest; auch während des Lockdown konnten Grenzgängerinnen und -gänger zur Arbeit gehen, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Heute nimmt der Bundesrat mit besonderen Quarantäneregeln Rücksicht auf die engen wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zu den Nachbarstaaten und verzichtet grundsätzlich darauf, Grenzregionen bei zu hohen Infektionszahlen zu Risikogebieten zu erklären. Stattdessen unterscheidet er nach Regionen. So gilt ab Montag eine Quarantänepflicht für Rückkehrer aus neun Regionen Frankreichs und aus Wien, nicht aber für die ganzen Länder.
Was tut die Schweiz, um das Reisen berechenbarer zu machen?
Das Justiz- und Polizeidepartement steht in ständigem Kontakt mit den anderen Ländern, insbesondere mit den Nachbarländern, um das Grenzregime untereinander abzustimmen. So soll unter anderem verhindert werden, dass für jedes Nachbarland wieder andere Einreisebedingungen gelten. «Die Schweiz liegt mitten in Europa. Wir haben das grösste Interesse daran, das Grenzregime untereinander abzusprechen», sagt Reto Kormann vom Staatssekretariat für Migration. Allerdings: Ursprünglich wollte der Bundesrat die Liste mit den Risikoländern nur jeden Monat anpassen, tatsächlich tat er es in der Folge alle zwei Wochen, und nun ist es nur eine Woche seit der letzten Änderung her.