«Kinder lachen mich aus»
Als Erstes fällt ihr Lachen auf. Es ist breit, warm und herzlich. «Ich bin ein fröhlicher Mensch», sagt Anita Utzinger aus Wetzikon. «Das war ich schon immer, das war mein Glück.»
Anita Utzinger ist zerebral gelähmt (siehe Box am Ende des Artikels). Durch die Behinderung macht sie abrupte Bewegungen, ihre Finger sind leicht gekrümmt, zum Laufen benötigt sie einen Rollator, beim Sprechen verzieht sie immer wieder den Mund. «Ich bin nur körperlich beeinträchtigt», sagt die 72-Jährige. «Aber viele Leute behandeln mich, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf.» Das hat ihr ganzes Leben geprägt.
Anita Utzingers Mutter war 20, als sie das Kind bekam. «Sie war vermutlich überfordert mit mir, und ich kam zeitweise zu meinen Grosseltern nach Gossau.» Dort habe sie den normalen Kindergarten besucht, wo sie von den anderen Kindern gut akzeptiert worden sei.
Doch dann begann eine regelrechte Odyssee, weil niemand wusste, wohin mit dem Kind, das zwar geistig behindert wirkte, es aber nicht war. Von einer Spezialschule in Uster bis ins Pestalozziheim nach Pfäffikon. Dort blieb sie drei Jahre lang. «Ich habe aber gespürt, dass ich da nicht hingehöre. Ich fing an, jeden Tag ein Riesenaffentheater zu machen, bis sie irgendwann fanden, ich sei nicht mehr tragbar. Das war meine Rettung.»
Die kleine Anita kam nach Zürich in die Wilhelm-Schulthess-Klinik, ein Wohnheim mit Schule für körperlich beeinträchtigte Kinder. Endlich fühlte sie sich am richtigen Ort. «Aber obwohl ich froh war, endlich meiner Entwicklung gemäss lernen zu können, war ich nicht glücklich. Kein Kind ist gerne im Heim, und die Erzieher waren sehr streng. Ich vermisste mein Zuhause.»
Nur alle drei Wochen durfte sie nach Hause. Als sie ins Teenageralter kam, fühlte sie sich immer gefangener. Nach der zweiten Sekundarklasse ging sie zurück zu den Grosseltern. «Von meinen Eltern bekam ich keinerlei moralische Unterstützung, das war schlimm. Aber meine Grosseltern haben mich immer gefördert und versucht, das Beste aus mir rauszuholen.»
Nach einem Haushaltjahr bei einer Familie in Dübendorf und der Mädchenschule in Wetzikon schlugen ihr die Grosseltern vor, sich beim «Zürcher Oberländer» zu bewerben. «Sie fanden, ich sei sehr gut in Deutsch und Grammatik. Und prompt bekam ich eine Stelle im Lektorat.»
Utzinger lernte einen Mann kennen, verliebte sich, heiratete mit 23. «Er war 24 Jahre älter als ich. Aber das machte mir nichts aus. Er gab mir viel Halt, glaubte an mich, ermutigte mich.» Doch dass ihr Mann in der gleichen Firma arbeitete, war einer Arbeitskollegin ein Dorn im Auge. «Sie gönnte mir den Job sowieso nicht», sagt Utzinger. «Obwohl mein Mann und ich uns bei der Arbeit gar nicht sahen, bekam ich irgendwann die Kündigung mit der Begründung, sie könnten dieses ‹Gschleik› nicht dulden. Das waren halt noch ein bisschen andere Zeiten.»
Ein Redaktor half ihr, eine neue Stelle zu finden, wo sie aber hoffnungslos unterfordert war. Schliesslich kam sie zur Elma in Wetzikon, wo sie bis zu ihrer Pensionierung in der Administration der Verkaufsabteilung arbeitete, 37 Jahre lang.
Kinder hat Anita Utzinger keine. «Vom Gefühl her hätte ich mir schon Kinder gewünscht. Aber ich hatte keinen Mut. Einerseits war ja mein Mann viel älter und hatte schon zwei Kinder, andererseits hatte ich wegen meiner Behinderung auch Angst, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein.» Nach 23 gemeinsamen Jahren starb Utzingers Mann. Mit einer seiner Töchter, nur drei Jahre jünger als sie, ist sie noch heute befreundet.
Sowieso ist Anita Utzinger gerne mit Leuten zusammen. «Ich bin ein sehr geselliger Mensch.» Um nicht zu vereinsamen, hilft sie in der Schreibstube Wetzikon, Flüchtlingen und sozial schwächer gestellten Menschen Bewerbungen und andere Schreibarbeiten zu erledigen. Es sei sonst nicht einfach für sie, an Leute heranzukommen. «Ich werde unterschätzt und nicht ernst genommen.» Mit ihrer Behinderung haderte sie deshalb immer wieder. «Ich habe mir oft gewünscht, dass ich gesund wäre. Gerade in der Mobilität fühle ich mich eingeschränkt.» Wenn sie recht überlege, sei jedoch nicht die Behinderung das Schlimme, sondern vor allem der Umgang der Leute damit. «Kinder lachen über mich, starren mich an, als ob ich ein Monster wäre. Das verletzt mich sehr. Und dann verkrampfe ich mich und kann noch schlechter gehen. Das macht mir am meisten zu schaffen.»
Mit Männern habe sie Pech gehabt, nachdem ihr Mann gestorben sei. Der erste Freund, den sie nach der Ehe hatte, war ein Alkoholiker, der zweite hat sie finanziell ausgenutzt. Erst mit dem dritten war sie wieder glücklich – ganze 13 Jahre lang. «Er war 16 Jahre jünger», sagt sie und lacht verschmitzt, bevor sie wieder ernst wird. «Aber er war gesundheitlich angeschlagen und starb mit 54. Ich habe ein Jahr lang geweint. Ich wusste: Jetzt finde ich keinen mehr.» Die Männer, die sie im Internet kennenlerne, seien sehr oberflächlich. «Die Guten sind schon unter der Haube, und diejenigen, die allein sind, kann man nicht brauchen. Sofort wollen sie über Sex reden. Das löscht mir ab.» Sie hat sich mit dem Gedanken abgefunden, allein zu bleiben, habe den Glauben an die Liebe aber noch nicht ganz verloren.
Trotz aller Fröhlichkeit sei sie manchmal schon wehmütig über ihr Leben. Es fühle sich manchmal an, als hätte sie etwas verpasst. «Am liebsten wäre ich Hebamme geworden oder Kindergärtnerin. Aber das ging halt nicht. Ich bin froh, habe ich mein Leben gemeistert, ohne je einen Rappen IV zu beziehen. Nun ist noch mein einziger Wunsch, so lange wie möglich hier in dieser Wohnung zu bleiben.»
Zerebrale Lähmung
Wird während der Schwangerschaft, der Geburt oder in den ersten Lebensjahren das Gehirn geschädigt, führt dies oft zu Bewegungsbehinderungen unterschiedlichen Ausmasses und Schweregrades. Dazu können Seh- oder Hörstörungen, kognitive, Sprach- und Verhaltensbeeinträchtigungen sowie in gewissen Fällen auch eine Epilepsie kommen.Nur in etwa 50 Prozent der Fälle finden sich eindeutige Ursachen für die Hirnentwicklungsstörung. Typischerweise führt ein Sauerstoffmangel vor, während oder kurz nach der Geburt zu einem Absterben von Nervenzellen. Aber auch Infektionskrankheiten während der Schwangerschaft, Alkohol- oder Medikamentenkonsum oder Fehlbildungen der Plazenta können das Gehirn des noch ungeborenen Kinds schädigen.